Mittwoch, 2. September 2009

Mein Tibet - Abschnitt Zwei

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Organisation und Inhaltsverzeichnis der gesamten Tibet-Berichtes seht ihr unter
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erweitert am 8. März 2010




4. Bericht
: über das Forschen bezüglich des Wandels der Menschheit
So oft frage ich mich und die Lamas: Wie gingen diese ganzen Wechsel seit der Zeit der Befreiung von der chinesischen Oberherrschaft bis heute vonstatten — von der alten Menschenart des Ausbeutens und Zerstörens hin zu dem, was es heute gibt? Hat es da auch noch so was wie Kriege gegeben?

In einer sehr alten und ehrwürdigen Akademie in der Stadt Buddhi-pur (früher Shigatse) gibt es eine Gruppe von vielleicht fünfzehn Frauen, die studieren die alten Schriften zu dieser Frage — war früher mal eine Art Geheimgesellschaft. Doch heute ist das alles nicht mehr geheim, nur abgehoben.

Seit etwa 1950 in der alten Zeitenrechnung der Europäer begannen sie aufzuschreiben, was vor sich ging, und wie und wo. Sie versuchten herauszufinden, wo der Antrieb für die Wechsel war.

„Schon lange gab es Leute in Europa, die in den Osten sahen, jedenfalls dorthin, was ostwärts von ihnen lag. Sie sahen Kriege und Räubereien wie überall, aber es ging hier ein wenig sanfter zu, und wir im Osten hatten eine Lehre, die war stärker, nein überzeugender als das, was ihnen die islamischen und christlichen Lehrer sagten. Damals nannte man diese Lehre `Buddhismus´. Weil sie — nach Vorstellung der Leute im Westen — von Buddha gelehrt worden war.“

Ich sage ja lieber `Dharma´ zu dieser Lehre [das h muß als Laut mitgesprochen werden].

„Doch der Shakyamuni Buddha hat aufgegriffen, was damals schon im Entstehen war, er war der große Lehrer, der diese damals neuen Ideen der Friedfertigkeit — `ahimsa´ genannt — sammelte und dem Volke lehrte, allen, die ihm zuhören wollten. Und es scheint, daß zu Shakyamuni´s Zeiten die Menschen ähnlich unfriedfertig waren wie zu Zeiten der wilden und vernichtenden Kriege in den islamischen und christlichen Zeiten.“

„Vielleicht war sogar die Unfriedfertigkeit ein Grund-Zug der Menschen-Art, der eine größere Zeitspanne benötigte, um überwunden zu werden, viel mehr als die großen Lehrer — wie Shakyamuni oder Jesus — Zeit hatten. Diese Überwindung kostete eine große Zeitspanne, die wir das `Wachsen der Menschheit´ nennen könnten. Vielleicht mussten sich die Menschen durch lange Phasen der Unfriedfertigkeit hindurchquälen, bis sie schließlich alle lernen konnten, wie schön es sein kann, im Frieden zu leben. Und wie schwierig, in Unfrieden.“

„Mir scheint es, daß die Unfriedfertigkeit leicht möglich war aufgrund des Erbgutes der Menschen, und dieses Erbgut konnte zwar nicht in biologischen Vorgängen verändert werden — dazu waren die Zeiten zu kurz — aber die Menschen mussten eine neue Methode erfinden, und das nannten sie `die geistige Evolution´.“ [diese Bezeichnung wurde tatsächlich um das Jahr 2000 der alten Zeitrechnung benutzt, so lächerlich es uns in heutiger Zeit erscheinen mag].

„Immer, wenn die Schüler des Mohammed oder des Moses oder des Jesus zu den Waffen griffen, wurde es noch schlimmer als alles andere. Und weil sie so grausam waren, siegten sie immer wieder und machten sich alles untertan und vernichteten die alten, lange bewährten Weisheiten. Die Länder mit den alten Lehren des Krishna, des Buddha, Mahavira, Zaratustra mussten aufgeben, wurden unterjocht, und ihre Bewohner wurden gezwungen, die neuen Götter oder Lehren anzubeten und nach ihnen zu leben.“

„Die Lehren hörten sich friedlich an, doch sie waren nicht in friedlicher Weise anwendbar. Wie es möglich war, weiß ich nicht, doch selbst in den Familien, den Schulen, den Tempeln wurde Gewalt gelehrt, oft in sehr feiner, unterschwelliger Weise. Und so konnten die jungen Leute nie lernen, ihre Gewalts-Ideen loszulassen. Ja selbst das große Buch der Juden — sie nannten es eine Heilige Schrift! — enthielt so viel Grausames . . . !“

„Doch weil sie friedliche Lebens-Ideen verbreiteten, versuchten die Leute damals, gerade diesen Teil der Lehren zu verwirklichen, was ihnen aber nicht gelang: die Saat der Gewalttätigkeit hatte sich zu tief in die Seelen eingefressen. Schließlich warfen sie ihre alten Lehren — wie sie dachten, radikal [das heißt mit allen Wurzeln] — ins Wasser, wie ich sagen möchte, drehten sich um und studierten hier bei uns im Osten die Lehren des `ahimsa´, der Friedfertigkeit. Und da erkannten sie, daß sie nicht einfach diese Lehren übernehmen konnten sondern zuerst tief innen ihre Seelen — radikal! — reinigen mussten, alles ausräumen, was so unrein war, daß sie sich schließlich selbst vernichten würden, wenn es keine ganz-innere Wende geben würde. Und das dauerte viele Generationen, musste ohne Unterbrechung kontinuierlich gemacht werden.“

„Einer ihrer Lehrer, Carl Gustav Jung, hatte viel im Osten studiert, und er hatte gefunden, daß es tief in jeder Menschenseele einen ganz alten Raum gab, in dem Vorstellungen aus der Urzeit lagerten, er nannte es das `archaische Unbewußte´. Und hier wurde nach dem Frieden gesucht, oder es wurde nach den Quellen von Unfriedfertigkeit gesucht, und der neue Trick war, die Unfriedfertigkeiten zurückzulassen. Alle Menschen, oder wenigstens die anführenden Menschen sollten das Unfriedfertige zurücklassen, persönlich, individuell.“

„Das ging nun nicht, indem es in den Genen vererbt wurde, nicht über das Erbgut, denn das konnten sie nicht verändern — obwohl es viele Versuche gab, sie nannten es Genmanipulation. Doch die Genmanipulation war zu kompliziert, sie eröffnete nie die Einblicke in alle Eigenschaften der Menschheit. Außerdem, wenn sie tatsächlich was zum Guten hätten verändern können, hätten sie es sehr schnell (also innerhalb von zwei oder drei Generationen) auf die gesamte Menschheit übertragen müssen, und die bestand damals aus
10 000 000 000 Menschen, das wäre nicht möglich gewesen.“

„Die einzige Möglichkeit war schließlich, daß sie die alten Lehren der Gewalttätigkeit verwarfen und sich nach friedfertigen Lehren umsahen, und die fanden sie bei uns. Hier im Osten allerdings hatten die Menschen sich gerade begeistert an die westlichen Lehren gehängt und waren überrascht und verwirrt über den neuen Gang der Dinge. So kamen die Lehren des `ahimsa´ über die westlichen Völker zurück zu uns, und schließlich kam es zu einer Einigung zu diesem Thema auf der ganzen Erde — und die alten Lehren haben hier überzeugt und die Kulturen umgedreht. Vielleicht möchte ich sagen, zurückgedreht.“

„Soweit in Kürze, wie das ging,“ und ich war tief gerührt, diese gelehrte Zusammenfassung hier zu hören.


In Tibet haben sie die Art, in der ganzen Natur zahllose Kräfte zu sehen, denen sie Namen geben. Die stärksten sind die Göttinnen und Götter. [wir Übersetzer im Franziskanerkloster schreiben hier Götter und Göttinnen, weil es dem heutigen – um das Jahr 2000 – Sprachgebrauch in Europa entspricht. Dennoch sind diese Wörter hier falsch, denn es handelt sich nicht um Gott oder eine ähnliche dominierende, die Welt erschaffende, erhaltende und zerstörende Authorität sondern eben um gewisse Kräfte. Genau genommen dürfen wir wegen der geforderten Klarheit diese Wörter nicht benutzen]



 5. Bericht: über die geistige Führung — die Dalai Lama
Da gibt es einen Lama, der alle religiösen Anschauungen und Lehren durchdenkt und darüber öffentlich spricht und dem Stil und dem Verstehen der Zeit entsprechend darlegt und auslegt, sie oder er wird `Dalai Lama´ genannt. Die oder der Dalai Lama ist verantwortlich für alle Lamas, für das ganze Tibet und noch weit darüber hinaus. Mit Lama bezeichnen sie einen Menschen mit großer Weisheit, einen Priester. Ein Lama ist auch Lehrer für alle Menschen, hilft ihnen in besonderen Ritualen, hat die alten und neuen Schriften und Traditionen studiert. Dalai Lama ist die oder der höchste Lama in ihrer Hierarchie der Priester, Nonnen und Mönche. Dalai Lama ist eine Art König. Hier schreibe ich über ein Gespräch mit der Dalai Lama, einer Frau zu meiner Zeit.

Denn ein großer Gegensatz ist mir nach meiner Ankunft schnell aufgefallen: da ist der Gegensatz zwischen der Religion der normalen Leute, in dem viele Göttinnen und Götter und andere geistigen Personen eine große Rolle spielen, und den Lehren des Buddha, in denen diese hohen Geister keine Rolle spielen. Ich möchte gerne die Dalai Lama fragen, wie das zu sehen ist.

„Es ist überhaupt nicht zu SEHEN!“ sagt sie sanft. „Es kommt darauf an, wo du stehst. Brauchst du die Götter oder brauchst du sie nicht. Wenn du sie brauchst, gehe hin und verehre sie in den Tempeln und an den Altären und in den Landschaften, wo du sie siehst. Du wirst viele gelehrte Menschen finden, die dir dabei helfen und dir die besonderen Plätze zeigen. Du wirst den Mann treffen, der vor sehr langer Zeit der westländische Mann Keith-pa Dowman war und der nach seiner großen Arbeit immer wieder hier geboren wurde; meistens als ein Tulku, also als ein wiedergeborener Meister.“

„Doch der Buddha legt dar: wir Menschen haben in unserem Geist — von Natur aus — die Fähigkeit mitbekommen, uns über die Götter weit hinauszuheben. Denn wir Menschen haben ganz konkret geistige Fähigkeiten, die über alles hinausgehen. Die Götterwelt ist erfunden und nicht konkret sondern abstrakt. Und der Shakyamuni Buddha selbst ist so ein Mensch, bei dem wir es beobachten können — in seinen Reden, die ja aufbewahrt wurden. Nach meiner Meinung hat er eine höhere geistige Position als jeder Gott, jede Göttin. Das ist menschenmöglich. — Ich habe es etwas zu einfach ausgedrückt,“ sagt sie dann etwas verlegen. Die Dalai Lama sieht eine Zeit lang auf ihre Hände, die im Schoß ruhen, und dann:

„Das natürliche Ziel des Mensch-Seins ist es doch, sich so weit zu entwickeln wie möglich. Doch WAS ist denn möglich? Das können wir nicht sagen, es scheint immer weiter zu gehen — etwa ohne Ende? Du siehst doch, was in den Tausenden von Jahren seit der Buddha lehrte, geschehen ist, wie weit wir Menschen inzwischen gekommen sind.“

Um die Dalai Lama zu treffen muß ich ihr Kloster aufsuchen. Glücklicherweise ist es in der Stadt Sukhavati, doch so abgelegen und schlicht, daß ich es nicht gesehen habe als ich die Stadt betrat und in ihr umherlief. Ja, sie sitzt auf einem Thron, doch dieser Thron besteht aus getrocknetem Lehm, und nur ein paar bunte Tücher und ein Kissen sind darüber gelegt, damit es ihr nicht zu hart wird. Mir scheint, es ist eine junge Frau, die da sitzt — oder ein Jüngling, der noch keinen Bart hat? An der tiefen Frauen-Stimme merke ich später, es ist eine Frau, und ich höre, sie ist gar nicht mehr so jung, hat schon große Kinder.

Die Leute sagen, eigentlich ist der Dzong, der Festungs- und Palastberg der Stadt Lhasa der Sitz der Dalai Lama, doch seit die chinesische Oberherrschaft sich abgeschwächt hatte und der Dalai Lama in seiner sechzehnten Existenz offen in sein Land zurückgekehrt war, wurde der Dzong von Lhasa, der Potala (sein früherer Palast) nicht mehr benutzt, nur noch als Museum und Ort der historischen Erinnerung, kaum mehr. „Wir sind weiter gegangen — die Erfahrungen jener Jahre waren so bitter, sie haben unsere alten Traditionen reichlich durchrüttelt, da schienen sie uns nicht mehr passend,“ sagt die Dalai Lama, als ich sie besuche.

Mit dem Finden des fünfzehnten Dalai Lama hatten die Tibeter sehr große Probleme, aber noch mehr mit seiner Bewahrung. Das alles führte immer wieder zu eigenartigen und ungewohnten Arten von Kämpfen gegen die chinesische Oberherrschaft.

Es scheint, daß der jeweils lebende Dalai Lama nicht nur seine Wiedergeburt voraussehen kann sondern im Voraus den Ort bestimmen kann, wenn er die dafür notwendige spirituelle Weisheit besitzt und die Zeiten es nötig machen. Jedenfalls wurde der fünfzehnte so geboren, daß es keine direkten Einflüsse von Seiten der Regierung in Beijing geben konnte, weit weg, und doch an einem Ort, den Tibeter bewohnten. Und erst als er so weit herangewachsen war, daß er die spirituelle Verantwortung übernehmen konnte, ging er nach Tibet zurück. Das alles sah die Beijinger Regierung als einen Affront, als eine Gefahr an und versuchte, eine Gegenkraft zu erzeugen. Da aber für die Beamten in Beijing der fünfzehnte Dalai Lama nicht als konkreter Mensch zu erkennen war, gelang ihnen das nicht, und alle Versuche mit politischen, erzieherischen und sogar polizeilichen Mittel seiner habhaft zu werden, führten nur zu raffinierten und stillen Widerständen der Tibeter aber nicht zur Auffindung des Dalai Lama. Er regierte auch nicht lange, da diese ganzen Zerrissenheiten seines Lebens ihn sehr schwächten und er sehr viel weniger lange lebte als in seiner vorherigen Existenz.

Meine Gastgeberin meint, daß in jenen Jahren erst recht die krassen Gegensätze zwischen den materialistischen Denkweisen und Handlungsweisen der führenden Kräfte in China und den spirituellen Kulturen in Tibet und Xinjiang und anderswo aufbrachen. Diese Brüche pflanzten sich bis tief in die Machtstrukturen fort und führten langsam zu einer Neuen Menschlichkeit bis tief in die Machtzentren Chinas hinein.

Obwohl auch die eigentlichen chinesischen Völker selbst große spirituelle und humane Traditionen besitzen, konnten sie sie in jenen Jahrzehnten nicht wirklich leben. Erst mit einem langsamen Zerfall der damaligen Kräftespitzen und dem neuen Verständnis für das Buddistische in China zerfiel dann auch die (sehr gekünstelte) Oberherrschaft über die abhängigen Völker. Was blieb - und dafür ist die Dalai Lama sehr dankbar - war die beschützende und brüderliche und bewundernde Hand Beijings über die kleinen Nachbarvölker.

Der fünfzehnte Dalai Lama, dessen sechzehnte körperliche Wiedergeburt sie weit ab, in einem Fischerdorf in Norwegen gefunden hatten, legte Wert darauf, nicht in einem Palast zu leben und von ihm aus zu regieren, und nicht mehr in Lhasa — deswegen heute die Lehmhütte bei Sukhavati. Er lebte ein geheimes Leben, vielleicht nicht mal in einer konkreten menschlichen Gestalt. Jede und jeder Dalai Lama nach dieser bitteren Zeit hatte dann das eigene Haus, manchmal kleinen Palast oder eher Lehmhütte oder mongolische Jurte oder Höhle in den Bergen — alles war möglich, manche waren Zeit ihres Lebens als pilgernder Lehrer auf der Wanderschaft. Die Dalai Lama, die ich kennlerne, stammt aus Kirgisien.

Schon der vierzehnte Dalai Lama, der noch selbst aus Tibet vor den chinesischen Truppen geflohen war, um die Reine Lehre zu bewahren und seine Pflicht als König zu retten, regte an, daß neue Formen der Dalai-Lama-schaft zu erdenken seien.

Zu mir sagte sie weiter, „sieh zu, was DU brauchst, wir haben eine große Schar von Göttinnen und Göttern, an die du dich wenden kannst. Aber wir haben auch die ehrwürdige Tradition in der absoluten Lehre des Shunyata, wo es keinerlei dieser Hilfsmittel bedarf, und du kannst deine ganz eigene Leere, dein wirklich eigenes Ich erkennen, `Tat swam así´, das bist du, so sagten schon die alten Inder, und sonst nichts. Shunyata heißt Leere, Leerheit, in der Sanskrit-Sprache.“


Wenn ich mir diese ganzen Arten von Geistigkeiten ansehe, sind für viele Menschen die Götter wohl das Höchste, Vollständigste. Aber Götter können nicht die Höhe erreichen wie ein menschlicher Buddha — und in dieser Lehre des Buddha hat jeder Mensch die Fähigkeit, ein Buddha zu werden, also die vollständige Reinheit und Klarheit zu erreichen. So gesehen ist Mensch-Sein das Höchste der Schöpfung — auch wenn nicht alle Menschen dieses Ziel erreichen —, jeder Mensch kann das Höchste sein.

„Wir sehen das so: in jedem Lebewesen ist tief innen der Buddha, jedes Lebewesen hat diese Eigenschaft, die wir Buddhatum nennen können. Wahrscheinlich bleibt das den meisten Tieren unbewußt. Wir Menschen aber haben dieses besondere Gehirn und können uns das bewußt machen, doch viele wollen das nicht. WIR KÖNNEN den Buddha in uns erkennen. Doch da ist auch noch dieses Ahamkara [im Westen Ego genannt], und das verhindert diese Erkenntnis, denn dann würde es, das Ahamkara meine ich, tot sein, und dagegen wehrt es sich mit Kraft.“ [suche in diesem Text — Strg+F — mal unter Ego und Ahamkara]

Im großen Tempel vom Sukhavati feiern sie oft — wöchentlich — besondere Rituale. Sie sind für die Menschen eine Gelegenheit, mal wieder sich selbst zu erkennen und ganz zu sein. Eine besondere Stimmung wird dazu erschaffen, stundenlang. Und die Dalai Lama mit einem Chor von Mönchen und Nonnen singt dazu Mantras; das sind heilige Wörter, mit denen die Hingabe an die Gottheit erbaut wird. Einige Male durfte ich dabei sein. Der Chor summt, und die Dalai Lama rezitiert im Verlaufe einer langen Zeit immer wieder dieses Mantra in Sanskrit, bald 100 mal, beginnend mit der heiligen Silbe Aum (Om), und dann der Text. Ihre sehr schöne und geschulte Stimme bringt mich in große Verehrung und Ehrfurcht. In dieser Verehrung summe ich mit dem Chor mit, alle summen mit — für sie, und der Chor hält einfach die Tonhöhe für uns. Ich verstehe nicht, was sie rezitiert, doch daß es in Sanskrit ist, erkenne ich. Diese uralte, indische Sprache ist ja die sprachliche Grundlage der Dharma-Religiosität.


Kapitel Fünf — Meine Wege im Yarlung-Land, Heilungen in Shaktigomp
Dieses Land Tibet ist so groß. „Es ist nicht ausreichend, nur in Sukhavati zu studieren,“ sagt der Geshe.

„Wander weiter, lauf weiter,“ sagt ein junges Mädchen und weist mit der Hand nach Westen, „da ist noch mehr von Tibet zu sehen. Tue es!“

Also wieder die Wanderkutte anziehen und meine Eselin bitten ... sie macht einen Sprung und wiehert heisern vor Freude, daß wir wieder auf die langen Wege des Landes gehen. Von Sukhavati wandern wir den Nyang-Tschu (Tschu = kleinerer Fluß) entlang, kommen an der Stadt Shigatse (heute heißt Shigatse Buddhi-Pur) vorbei und sehen vor uns das breite Tal des Riesenflusses (= Tsangpo) Yarlung.

Wir laufen durch das lange und meist weite und flache Tal des Yarlung-Flusses — doch es gibt auch enge Schluchten —, dieser lange Yarlung-Fluß, der in Bengalen in das Meer mündet. Wir folgen ihm aber westwärts — wie das Mädchen riet —, aufwärts bis an seinen Anfang in der Nähe vom See Manasarova, machen auch Ausflüge nördlich des Yarlung-Tales in die weiten, hochgelegenen Gebiete der Hirten-Nomaden, das man die südlichen Ausläufer des Tschangthang [früher Chang-thang geschrieben] nennt. Besuchen Einsiedeleien, Klöster, auch Bauern und Hirten, Straßenarbeiter, Yak-Melkerinnen, wandernde Händler, wohnen an den Nachtfeuern dieser Leute, und ich schlafe wie sie auf dem kahlen Boden, eingewickelt in Tierfelle — und höre an, wie sie das Leben sehen. Und ich schlafe meistens unter dem freien Himmel, eingewickelt in die Felle — die tags die Eselin trägt —, lebe wie die meisten Leute hier.

Eines Abends am Lagerfeuer im Yarlung Tsangpo-Tal (Tsangpo ist das Wort für einen großen Fluß), jemand sagt mir, daß ein schmaler Weg nach Norden in eine hohe, weiche Berglandschaft führt. Da solle ich unbedingt hingehen, etwas erwartet mich dort, aber mehr kann ich nicht erfahren.

An dem Ruheplatz, wo ich diese Nachricht erhielt, höre ich wie ein Wasserfall von einer Felskante herablärmt, sein schaumiges Wasser strömt unten in einen kleinen See nicht weit von einem versandeten Arm des Yarlung-Flußes.

Der Weg hinauf aber klimmt neben dem Wasserfall in vielen Kehren an der Felswand nach oben, und ich wundere mich, wie hier Herden und Yak-Transporte gehen können. Doch mir kommt niemand entgegen, und wie ich oben bin sehe ich, daß es noch einen zweiten Weg gibt, den sie nach unten nehmen − zwei Einbahnwege.

Der Fluß zum Wasserfall kommt aus einem weiten Tal, in das ich dann steige, es liegt viel höher als das Haupttal des Yarlung Tsangpo, von oben sehe ich den Yarlung Tsangpo mit vielen Windungen und in vielen Armen unter mir liegen. Noch immer trübe vom Schaum ist das Wasser aus dem Wasserfall, im Yarlung sehe ich es als ein eigener Fluß im großen Fluß. An den Ufern der Arme des Yarlung ist der Boden grün von Gräsern und Büschen, doch etwas abseits ist er weiß von unfruchtbarem Sand.

Oben sehe ich wie dieser kleine Fluß hervorströmt zwischen buschigen Hängen, die in der Höhe in große, blasse Weideflächen und dann in Felszacken übergehen. Der Talboden ist mit lichten Pappelwäldern angefüllt, und da er weiter ansteigt, gibt es immer wieder kleine Stufen mit Wasserfällen und Seen. In diesen lichten Wäldern stehen Horste von blaß-lila Blumen, Rittersporn, fast so hoch wie mein Körper.

Zwei Mal am Tag treffe ich auf Raststätten, das sind kleine Schafs-Gehöfte, die auch einen großen Raum für Gäste haben, eine Feuerstelle in der Mitte, Schlafplätze entlang der Wände oder auch nahe dem Feuer. Alle diese staatlichen Raststätten sehen ähnlich aus: ein hohes, spitzes Dach, in der Mitte ein prächtiger Schornstein über der Feuerstelle im Innern, das Dach mit dicken, dunklen Schieferplatten gedeckt. Anders als sonst in diesem Land der Flachdächer {etwa wie auf dem Bild 20}.

Nicht nur rastende Wanderer treffe ich hier, sondern auch Menschen, die für länger hier unterkommen. Das ganze Tal ist gut organisiert, da ist eine Ordnung, und ich merke, daß eine höhere Behörde dahinter steht.

Hier sehe ich mehr Leute aus anderen Ländern als sonst auf meinen Wegen in Tibet. Es ist wie eine Ansammlung solcher Leute, die von weit her kommend dieses Tal erfahren wollen. Doch mehr als zehn Menschen treffe ich nicht an einem Tag. Zwar wandere ich mit offenen Augen, doch ich möchte bei mir bleiben, keine Gespräche, keine näheren Begegnungen. Ein wandernder Einsiedler ... so fühle ich mich, und es ist ein stiller Genuß. Dennoch sagt mir in einer Raststelle ein Mönch etwas: „weißt du wo du hingehst? Nach ein paar Tagen wirst du in eine kühle und verlassene Gegend kommen, zwischen zackigen Felsen, und am Ende dieses Pfades steht ein großes Gebäude, hoch, dunkel, mit dunklen Türmen und Zinnen, da sollst du hingehen.“ Ich weiß nicht, wieso er „sollst“ sagt.

Eine Kraft treibt mich, doch ich erkenne sie nicht genauer, je weiter ich gehe, desto mehr schiebt mich etwas. Meint er DAS?

Wenige Menschen sind hier, sagte ich schon, aber Tiere: an den Hängen ziehen freilebende Yakherden, alle sind schwarz mit langen, weißen Wedelschwänzen. Und ich habe einmal Spaß daran, wie zwei Bullen miteinander kämpfen, was mir eher wie ein Spiel aussieht, wenn diese so behäbigen Tiere umherrennen, die Schwänze fliegen, und mit den Hinterbeinen schlagen sie in die Luft. Dabei grunzen sie. — Und auch eine Herde dieser typischen Esel sehe ich, sie kommen zu mir und beäugen mich, aber gelangweilt wandern sie wieder die Hänge hoch. — Geier und Adler kreisen oben und suchen nach Nahrung — so deute ich ihre Flüge, wie wir Europäer so sind ... alles wollen wir deuten, über eine Bedeutung nachdenken und sprechen. Als ob wir wirklich etwas wissen würden über diese Tiere.

Kurz vor Sonnenuntergang kommt eine Frau hinter mir her, holt mich ein und geht neben mir bis zur nächsten Herberge. Sie trägt eine dunkel-rot-grüne Kutte, was ich noch nie gesehen habe, vielleicht gehört sie zu einem besonderen Nonnen-Orden? Sie sagt, „in drei Tagen wirst du ankommen.“ Wo? frage ich, leicht schüttelt sie den Kopf, „na, wo du hinwillst.“ Es ist das alles so geheimnisvoll, seltsam. Ich habe doch kein Ziel — nur das Land erleben. Diese Leute wissen um meine Bestimmung, doch ich bin ahnungslos. Je weiter der Weg führt, desto höher kommen wir ins Bergland, und es wird auch kälter, und gerade wie ich das denke, sagt sie mit einer Hand eine rasche Bewegung in die Luft werfend, „nur nachts wirst du dein Gho tragen dürfen, am Tage werdet ihr keine Kleidung anhaben — so wie die Yaks und Esel hier. Ja, vielleicht eine Wollmütze oder ein Wolltuch um den Kopf, damit es sich leichter meditieren lässt. Aber sonst ...“

Dann zieht sie schnell weiter.

Am nächsten Tage treffen wir uns, da steht sie wieder am Weg und sagt, „mit dir möchte ich gerne eine Zeit lang hier rasten.“ Und wir setzen uns am Wegrand vor ein paar magere Büsche auf den Kiesboden und halten bald unsere Hände, und sie streicht über meinen Bart und bemerkt schüchtern, „unsere Männer hier in Tibet haben keine Bärte dieser Art ... sehr selten, es ist schon eigenartig mit dir, da verschwindet ja dein Gesicht fast ganz unter diesem Haargebüschel — und meine Hand auch.“

Ich frage sie, WAS da hinten ist, wo ich hinlaufe ohne es zu wissen. Doch sie hält eine Hand auf meinen Mund und zieht mich so, daß wir nebeneinander liegen. Wir schmusen ein wenig, und dann schiebt sie ihr Kia (das Wickelkleid der Frauen) hoch, und mein Gho (Wickelkleid der Männer) auch, und legt sich auf mich − und das seht ihr auf dem Bild 11, und wir sind still ganz nahe beieinander, die Körper tauschen sich aus, weiblicher mit männlichem Körper . . . , tauschen sich aus wie Lichtstrahlen, die hin und her leuchten, von ihr zu mir, von mir zu ihr.

Bild 14: liebendes Treffen mit der Nonne auf dem Weg nach Shiv-Shakti-Gomp´

Den Pfad her kommen ein paar mal Leute vorüber, und eine junge Frau bleibt stehen und zeichnet uns, eben das Bild 11. Sie sitzt in der Nähe und bewacht unsere Liebe, wie sie hinterher sagt: „meine Wache für euch ... gegen Wölfe und Füchse, die manchmal ein wenig frech sind, und gegen Kinder, die noch frecher sind.“

„Obwohl ihr beide ja schon recht alt seid — im Vergleich zu mir — habe ich eure Gesichter jung gezeichnet, so, wie ihr so viel junge Frische ausstrahlt.“ Später zeigt sie auf dies und das auf dem Bild 11 und auf die Lichtstrahlen, die von unseren Körpern ausgehen, „als wenn ihr die ganze Gegend erhellt — ja so ist die Liebe!“ seufzt sie und hat ein paar Tränen, „gerade ist mir mein Liebster davongelaufen — immer das gleiche, sagen die Alten, Menschsein ist nun mal so,“ und dann wieder lacht sie hell, macht ein Feuerchen und braut einen Tee, und holt meine Decken aus dem Gepäck meiner Eselin und legt sie unter und über uns — und so bleiben wir die Nacht hier zusammen — die Junge und wir beiden.

Aber ich möchte euch sagen, hier geht es ja gar nicht um Sex. Die Liebe überhaupt, und die Liebe mit uns beiden hat unsere Körper so nahe gebracht . . . wir haben kaum an Sex gedacht — denn dann wäre bald alles vorbei gewesen. Tatsächlich, Sex ist dazu da, um auf schöne Weise Kinder zu zeugen, neuen Menschen ein Leben zu geben. Das ist etwas Wunderschönes, wenn wir es bewußt und in Liebe zureinander tun, und in Zuneigung zum neuen Menschen und dabei eine Seele zu uns einladen . . . , daß sie bei uns in einen neuen Menschenkörper einschlüpfen kann, und bei uns aufwachsen kann.

Doch Liebe ist ja viel mehr. Und sie kann sehr lang währen. Nicht nur einen Sex-Akt lang, nicht nur eine Nacht lang ... sondern ich fühle Liebe in mir, immer, bin angefüllt damit. Diese körperliche Begegnung mit einer ebenso liebenden Frau ist sehr große Erfülllung, doch wenn wir uns in einen Sex hineinsteigern ohne Bedacht, ohne Stille miteinander, ohne Bewußtheit . . . dann ist es bald vorbei.

Sie gibt mir das Bild — „damit du zuhause zeigen kannst, wie es heute in Tibet so ist.“ Oh, ich werde wohl nie wieder nachhause gehen, hier ist es gut für mich, sage ich.

Nun bleiben wir zusammen, bis nach zwei weiteren Tage dieses dunkle Gebäude zu sehen ist, „Shaktigomp nennen wir das hier,“ sagt das Mädchen. „Eigentlich heißt es Shiv-Shakti-Gomp, aber das ist zu aufwendig zu sagen.“

Tatsächlich, voller Türme ist diese große Anlage, sechs graue Türme, schlank, je mit einem spitzen, schwarzen Dach, und vielen Fenstern unter dem Dach. Doch so wie diese Landschaft ist, wird man nicht viel mehr sehen können aus den Fenstern, denke ich mir, nicht viel mehr als von der Stelle aus, an der wir stehen. — Aus einigen Schornsteinen — die wie die Türme in klein aussehen  . . .

Bild 15: die Türme von Shiv-Shakti-Gomp´, als Siebentes steht oben eine kleine Pyramide

. . . kommt Rauch, wie schön, es wird warm sein. Oh, meine naive Sorglosigkeit!

Die niedrigen Gebäude sehen nicht tibetisch aus, habe so etwas noch nie gesehen auf meinen langen Wanderungen. Die Türme stehen in einer aufsteigenden Reihe, vom Tal aus den Hang hinauf in einer Reihe gebaut, und rundherum die anderen Gebäude. Dann, oben auf dem Berg sehe ich nur eine kleine Spitze, die siebente Turmspitze — vielleicht hinter dem Bergkamm?

Der unterste Turm hat ein Wappen in Augenhöhe, das ist rot und zeigt ein fremdes Zeichen. Und so hat jeder Turm sein eigenes Wappen:

Bild 16: Shiv-Shakti-Gomp´, Wappen auf dem untersten Turm: Muladhara darstellend

Dann kommen wir an ein offenes, großes Tor, und wie ich an den Kräutern im Pflaster sehen kann, wird es nie geschlossen. Im weiten Innenhof stehen ein paar Bänke, Leute wie ich sitzen da, manche fröhlich, manche eher betrübt, einige in sich versunken und mit geschlossenen Augen. Aber alle sind normal gekleidet, in Reise-Kutten oder Kia oder Gho, auch die Fremden aus dem Ausland.

Im Innenhof mit dem steinernen Pflaster setzen wir uns zusammen auf eine Bank, doch bald kommt ein Mönch und leitet uns in verschiedene Richtungen, wir sehen uns erst nach einigen Tagen wieder. Meiner Eselin wird eine Weide zugewiesen, zusammen mit anderen Tieren.

In einem kahlen Raum haben sie einfache Fell-Lager, in der Mitte steht ein großer Ofen, aber der ist kalt. Aus einem Fenster sehe ich den untersten Turm, und auch sein Wappen. Hier ist das Essen noch einfacher als sonst in Tibet, abends und morgens geben sie uns eine Hafergrütze oder auch Tsampa. Jedenfalls versammeln wir Pilger aus diesem Raum uns am Ofen — fünf Männer und eine Frau, alle aus anderen Ländern. Eine Nonne in gleicher Kutte wie die Frau auf meinem Weg sagt ein paar Worte, daß wir nun hier angekommen wären, und das hätte gewiß eine große Bedeutung für unser Leben, unser Lebens-Weg zu Buddha.

„Nehmt nachher eure Erfahrung wie einen großen Strauß Blumen in eure Arme und geht wieder in die Welt, nach den zehn Tagen bei uns in Shaktigomp.“

Und dann sitzen wir alle still zusammen, und bald lege ich mich auf mein Felle-Lager und schlafe — bis am Morgen jemand mich weckt und uns in einen größeren Saal schickt. Drei Leute sitzen da und trommeln heftig, und eine Geige wird dazu unmelodisch gekratzt. Viele der Pilger sind hier.

Unschlüssig stehe ich herum bis ich sehe, wie einige anfangen zu tanzen, und sie schnaufen dazu laut und unrythmisch, chaotisch finde ich. Immer noch weiß ich nicht, wieso ich hier bin, aber das Erlebnis packt mich erstmal und ich tanze mit. Das Tönen der Instrumente — soll das sowas wie Musik sein? . . . das Tönen wird heftiger, staccatoartig, doch wenn wir beginnen, ebenso rhythmisch zu tanzen und zu schniefen, werden wir angewiesen, ohne einen Rhythmus zu bleiben.

Das geht eine Weile so bis plötzlich die Instrumente aufhören, außer einer großen Trommel, und alle Anwesenden — sie kennen das wohl schon — schrecklich an zu schreien fangen und mit den Armen und Beinen umherfuchteln, auf hingeworfene Kissen schlagen, sich die Haare raufen  . . . doch nach und nach sitzen einige an der Wand und lachen oder lächeln einfach vor sich hin. Die Stimmung wird angenehmer, doch ich schreie und schlage weiter, denn ich merke, wie gut mir das tut.

„Steht wieder auf und tobt weiter,“ ruft eine Nonne, und es geht für manche von vorne los, und nun ist auch die Geige wieder da. Wir beginnen mit den Armen nach oben zu stoßen bis die Schulterknochen wehtun. Und springen hoch und kommen mit einem huh-Gebrüll wieder auf dem Boden an. Mit einem starken Trommelschlag ist alles zu Ende, und wir stehen nun still und mit schweißtropfendem Körper da und sehen uns verwundert um und an: was das denn nun war, was da nun mit mir los ist.

Lange Pause.

Dann kommt etwas Zartes und Wunderbares, denn die vorher so kratzige Geige wird neu gestimmt und beginnt mit einer schönen, weichen Melodie, und der Geiger tanzt umher und regt uns an, ebenso zu tanzen. Lieblich ist es nun mit uns, und weich schwinge ich meine Arme und ein rotes Seidentuch, das mir jemand reicht, und drehe mich selig mit geschlossenen Augen — es ist nun paradiesisch geworden, und alle Härte der vorherigen Dynamik ist fort, ich freue mich über diesen Ausklang.

„Das letzte Stück ist besonders wichtig für euch, wir nennen es Visaardschanam, es ist ein alter Sanskritausdruck. Erst nach dem Visaardschanam hat das Vorherige seine heilende Wirkung, sonst würde es nur in chaotische Unsinnigkeit verlaufen. So aber ist es ein heilender Vorgang.“

Das erklärt uns die Nonne, die auch meint, wir könnten doch nun etwas Heißes trinken und einen Haferbrei gebrauchen. Doch ich will raus gehen und mich erfrischen, nackt wie es hier der Brauch ist, und ich besuche die Eselin, die sich freut. Zusammen laufen wir den Berg ein wenig hoch, bis ich ahne, daß wieder etwas im Gomp geschieht, wo ich jetzt hinrennen sollte. Mein Körper dampft wie eine Nebelbank am kalten Fluß.

Und so geschehen hier einige Dinge, die ich später wirklich als Heilung für meine Seele empfinde. Ich bin froh, daß es so gekommen ist, daß ich der Kraft, die mich hierhertrieb, nachgegeben habe — und nicht im Ärger alles abgelehnt habe. DAS ist das Stichwort für weitere Geschehnisse hier in Shaktigomp: ich habe gelernt, was Ärger ist. Ich brauche keinen Ärger, der stört nur und macht unglücklich. In der ersten Zeit lache ich über mich selbst, wenn ich merke, daß ich mich ärgere.

Zuerst aber haben die anderen über mich gelacht, wenn ich verärgerte Bemerkungen machte oder mich sogar schmollend zurückgezogen hatte. Wir sprechen viel darüber, denn die Sache mit dem Ärger steht im Mittelpunkt von Unwohlsein. „Wer ärgert sich denn?“ fragt ein Mönch. Die übliche Antwort kommt: „na, ich natürlich, ist doch klar.“ „und wer ist dieses ich?“ Dann war ich sprachlos, bis ich höre, sehr zusammengefasst: „was du Ich nennst, nennen wir das Ahamkara“ [die Übersetzer: im Sprachgebrauch im Europa des sogenannten 21. Jahrhunderts sagt man das „Ego“, mit einem Sanskritwort sagen wir in Tibet „Ahamkara“ statt Ego], „und das Ahamkara ist etwas sehr Künstliches. Das Ahamkara bist nicht du sondern etwas außerhalb von dir, sehr an der Oberfläche deines Seins, so wie du Kleider über deinen Körper ziehst oder eine Fremdsprache sprichst. Was du bist, nennen wir das Ich [„aham“ in Sanskrit], es ist angeboren und gehört nur zu dir, niemandem sonst. Und wenn du gestorben bist, ist auch das Ich wieder fort.“ Und das Ahamkara auch? frage ich. „ja, gewiß, das Ahamkara auch. Und der Ärger damit ebenfalls!“ Das ist alles so neu, daß ich mich nun zurückziehen muß und zwei Tage still in einer Ecke sitze, erst ein wenig verstört, dann aber mit zunehmender Klarheit.

Und wie geht es der Eselin damit? Zuerst war für sie etwas fremd an mir, doch nach kurzer Zeit öffnet sie sich mir ganz: wir werden zu Freunden wie nie zuvor. Ich merke: ich hatte bisher etwas zwischen uns gestellt mit meinem Ahamkara. Daran ist ein Tier nicht gewöhnt, das kann ein Tier nicht verstehen, nicht ertragen. „Tiere haben kein Ahamkara,“ sagt eine Nonne, „das ist Menschen-Eigenart  . . .  oder vielleicht -Unart?“

Ich frage nach den zwei Tagen: wie kommen wir nur zu diesem Ahamkara, wo kommt es her? Der Mönch von neulich sagt „frisch geboren haben wir keines. Doch in uns Menschen ist es angelegt, daß wir uns ein Ahamkara anschaffen können, dieses Künstliche! Die Sucht, uns ein Ahamkara anzuschaffen, ist also etwas Natürliches, doch auch etwas Lästiges. Doch was wir mit dieser Eigenart machen, . . . “

„Buddha hatte ja das Ziel, daß alle Menschen `göttlich´ werden. Wir in Tibet haben unsere Gesellschaft darauf eingerichtet, daß wir allen Menschen hier diese Gelegenheit geben, `göttlich´ zu werden. Und deswegen versuchen alle, die Kinder zu überzeugen, daß ein Ego nicht passend ist im Leben, und so lassen die meisten Kinder diese Sache wieder los. Und `göttlich ist natürlich´ — so meine ich. Der natürliche Mensch ist göttlich.“

Ich sehe nun auch: das Ego ist etwas, was nur Menschen haben. Doch wir können es wieder abwerfen. Das ist unsere Chance zum Reiferwerden, endlich über das Tierische in uns hinauswachsen. — Ist dieses Ego denn etwas Tierisches? Die Ahnung habe ich, daß es nicht das Endziel des Menschseins sein kann sondern der Mensch darüber hinaus-reifen kann — vielleicht das Endziel der Evolution?

[Meine Einsichten  in die buddhistische Mystik sind schwach. Zum Bild 11 und zum Thema "Shakti" steht Genaueres im Buch "Grundlagen tibetischer Mystik" von Lama Anagarika Govinda ab Seite 118]


Wieder laufen wir im weiten Tal des Yarlung westwärts.

Etwas seitwärts in einer Lichtung treffe ich einen Mann, der neben einem Hund sitzt. Der Hund liegt dort auf der Seite, die Schnauze dem Mann zugewandt, er atmet nur ganz leicht, und ich sehe erst nicht, ob er schläft oder was ist. Der Mann sieht sehr traurig aus. Ab und zu träufelt er etwas Wasser über seine dicke, schwarze Nase. „Er heißt Nanok, und wir lieben uns.“ Nach einer Weile mache ich für uns ein Feuer, denn es ist Abend, und vielleicht wollen wir uns einen Tee machen. Der Mann streicht immer wieder liebevoll über den Kopf und die Schnauze des Tieres. Ich sehe ein paar Tränen in seinem Gesicht, und mir kommen sie auch. Der Mann spricht langsam diese Worte:

„Er ist so krank, und ich sehe, er wird sterben.“

„Wir lieben uns so sehr, obwohl ich ihm manchmal Unrecht getan habe. Er hat mir nie Unrecht getan, er ist immer treu zu mir. Doch ich habe ihn ein paar Mal verraten.“

Er legt die Hände zusammen und verbeugt sich tief vor seinem Freund, seine Schultern zittern. „Nur sehr selten hat er mir etwas zu essen weggenommen, vielleicht drei mal in seinem ganzen Leben, das ist doch nicht schlimm? Er wusste, daß er das nicht darf und hat sich daran gehalten. Doch einmal, es war noch früh in diesem Jahr, habe ich gesehen, wie er mir ein großes Stück Käse nahm. Da stürzte ich auf ihn zu, um ihm klar zu machen, daß er das wirklich nicht darf, ich habe ihn angebrüllt und auch geschlagen. Er bekommt immer genug zu essen, es war wohl ein anderer Beweggrund, aber ich hätte den Grund respektieren müssen, auch wenn ich ihn nicht verstehe. Schließlich sind wir so enge Freunde, ich hätte es respektieren sollen.“

Und er schluchzt wieder ein wenig.

„Doch ich habe ihn geschlagen, und seit dem Moment ist etwas fremd zwischen uns geworden. Die Nähe war nie mehr so wie vorher. Ich war für ein paar Wochen tief traurig, es war nicht möglich, die alte Nähe wieder herzustellen, so oft ich ihm auch den Kopf getreichelt habe. Ich habe ihn umarmt und um Verzeihung gebeten, doch es schien, als ob ihm das nicht mehr möglich wäre.“

„Und dann ist noch folgendes passiert, erst vor vielleicht zwei Monaten. Bei einer Verkaufsreise — ich handele mit Strümpfen und stricke sie auch bei meinen Kunden im Haus — bin ich für einige Tage in einem Haus gewesen und habe dort auch gestrickt. Die Leute wollten nicht, daß mein Freund mit ins Haus käme, und ich bat ihn, draußen zu bleiben. Das ist ja ansich kein Problem, so robust wie er ist. Doch er wollte — so sind Hunde ja — in meiner Nähe bleiben, was ich ihm nicht gestattete, ich dachte, meine Geschäfte brauchen auch ihr Recht. Mehrmals am Tag ging ich zu ihm und wir wanderten etwas umher, aber dann musste er wieder an seinem Platz allein liegen. Es war ein schlechter Platz, und er wurde etwas krank in diesen Tagen, und er ist seitdem nicht wieder richtig gesund geworden.“

„Wer weiß, vielleicht war es diese Krankheit, die ihm nun den Tod bringen wird. Besser hätten wir gleich wieder weg gehen sollen von den Leuten — aber manchmal bin ich nicht so klar in meinen Entscheidungen, bin unbewußt. Es ist sehr traurig mit mir. Ich kann nachts kaum schlafen und weine lange Zeit deswegen.“

In der Nacht lag ich etwas abseits in meine Schafsfelle gewickelt, und am Morgen war der Hund gestorben. Der Mann weinte hemmungslos und strich immer wieder über das dunkle Fell seines Hundes. Nach zwei Tagen Totenwache gruben wir ihm ein tiefes Grab — und dann war alles vorüber. Spät im Herbst traf ich den Mann wieder, er war immer noch traurig, und er meinte, „nun weine ich nicht mehr, aber die Trauer ist geblieben, ich glaube, weil ich ihm so großes Unrecht getan habe. Das wird mich wohl noch durch die Jahre begleiten: die Liebe zu meinem Nanok und die Trauer über mein Unrecht.“


Kapitel Sechs — Im Land des Berges Kailash oder Kang Rinpochee, ich begegne Tsering
Ja, alle schlafen nackt hier in Tibet, nur in die Felle gewickelt, und ich habe es bald übernommen. Die Kälte des Bodens wird von den Fellen abgehalten, die der Luft auch. Und wenn es regnet, legen wir noch ein dichtes, festes Tuch über uns. Und wenn jemand krank ist? Sie sind sehr selten krank. „Bei längerer Krankheit findet sich ein Gehöft von Bauern oder eine dieser staatlichen Häuser für Nomaden, wo wir uns erholen können  . . . bei guter Pflege.“ Gute Pflege? frage ich.

„Damit meinen wir ebenso die Pflege Deines Wesens [wir sagen Seele]. Gerade der kranke Mensch braucht da Zuwendung, und er ist auch offener für die besonderen Erfahrungen in seinem Wesen — es kommen dann auch mal eine Nonne oder ein Mönch oder Priester, die bei dir sind und eine gemütliche Stimmung um dich erschaffen.“ So erzählen die Nomaden mir. Sie wundern sich, daß jemand von so weit herkommt, um diese Selbstverständlichkeiten zu hören.

Diese Felle: die von langhaarigen Schafen sind die besten, deswegen auch die wertvollsten. Denn es ist schwer, sie fertig zu machen, die langen Haare verwirren sich schnell und sind umständlich wieder zu trennen. Natürlich tragen wir die Haare innen, denn da wärmen sie. Und außen haben sich die Leute bunte Ornamente aufgemalt oder eingestickt. „Nein, es sind keine Ornamente, nur wegen des Schmucks machen wir das selten. Diese Zeichen, die du siehst, haben eine Bedeutung. Sie stoßen schlechte Geister ab und locken gute an — auch wenn du meinst, daß wir uns das einbilden. Das ganze Leben ist eine Einbildung, warum nicht auch dieses? Doch solche Gedanken zu haben, das ist gut für unser ganzes Leben ..., lenkt unseren Lebensstil.“

Nach einer solchen Nacht am Feuer einer Nomaden-Familie legt sich etwas Weiches auf meine Stirn, und ich wache auf — und sehe in ein zartes und schönes Gesicht über mir, und die Hand streicht weiter. Eine hohe Stimme summt dazu, und dann sagt das Kind, „ich möchte gerne mit dir wandern. Du hast so schön erzählt, was du alles besuchen willst, darf ich?“ So viel Vertrauen und Kraft ist in der Stimme, in diesem Gesicht, ich nicke und bin so gerührt, daß ich nichts sagen kann. Der Junge geht hinüber zum Zelt seiner Familie und kommt zurück mit einer ganz schwarzen, jungen Yak-Kuh, Dri sagen sie hier dazu, die seinen Beutel trägt, „komm, wir ziehen los“. Meine Eselin und die Dri mögen sich und gehen immer zusammen.

Der Junge ist das Wandern gewohnt, er ist als Hirte aufgewachsen, höre ich, in diesem schwierigen Tschangthang-Gebiet. So nennen sie eine riesige fast unfruchtbare Provinz mit Bergen und weiten Tälern und vielen Seen, die größte Provinz Tibets. Die Nomaden dort brauchen viel eigene Entscheidung und Freiheit um überhaupt etwas gewinnen zu können, denn immer ändert sich alles. Und dann müssen sie mit ihren Tieren wieder woanders hinziehen.

Er heißt Tsering. Seine Familie lebt ein Nomaden-Leben mit einer Yak- und zwei Schafsherden, und je nach der Jahreszeit suchen sie ihre Weidegründe auf, mal hier, mal da, das wird geregelt im Rat der Hirten in dieser Gegend. Es sind die Familien nördlich des Yarlung-Flusses, nord-östlich vom Kailash-Berg, der früher auch Tise genannt wurde. Sie leben, wo es nicht so zerklüftet und zerrissen ist wie am Kailash. Doch Tsering findet dieses Leben nun langweilig, und weil er in dem Alter der Welteroberung ist, lassen seine Leute ihn ziehen.

Ein paar Zeichnungen habe ich von Tsering gemacht und im Text verteilt — doch mein Können ist gering, und deswegen kommt sein Gesicht nicht so recht raus. Wir sind sehr nahe Freunde geworden auf unseren Wanderungen. Doch am Ende — nach zwei Jahren Umherwandern — geht er zurück in sein Hirtenleben, in sein Hirtenvolk im Tschangthang.

Er trägt noch die Sommerkleidung der Hirten in Nord-Tibet: ein farbiges, knielanges Wickelkleid, das sie Gho nennen, schwarze, gestrickte oder gefilzte Wollstrümpfe, die er immer wenn es ihm warm wird, nach unten rollt, und eine Kappe aus Schafsfell, orange gefärbt. Auf den Rücken hat er ein langes Schafsfell gebunden — Haare nach innen —, das ihn vor Kälte von hinten schützt, es reicht vom Nacken bis zu den Knien, auch kann er sich darauf legen ohne vom Frost aus dem Boden angegriffen zu werden. Um den Hals trägt Tsering Halstücher aus Seide und bunte Ketten, blaue oder rote Perlen. Wie er sagt, die männliche beziehungseise die weibliche Farbe. „Die weibliche ist größer, stärker, ich verlasse mich auf die roten Perlen, wenn es schwierig wird.“ Er hat selbst viel Ähnlichkeit mit dem Weiblichen — ehe er zum Mann werden wird. „Ja, ich weiß,“ sagt er später mal, „ich will das noch nutzen so lange es geht. Dann werde ich zum Mann, das wird anders sein, und auch das werde ich leben, wie es sich gehört.“ Sein Körper ist noch klein, der Scheitel reicht mir gerade zur Kehle. Er ist voll jungenhafter Kraft und Wendigkeit und Lust.



6. Bericht: über Tsering´s Kleidung
Nun beschreibe ich mal genauer, was Tsering so an Kleidung trägt, es ist die normale und häufigste Kleidung im zentralen Tibet, angepasst an das Leben: einen aus Wolle gefilzten, breiten, schwarzen Leib-Gurt auf dem nackten Bauch, den legt er beim Bad nicht ab, meistens nicht einmal beim Schlafen, der Leib-Gurt ist breit und so gefaltet, daß er eine lange Tasche bildet, die sich um den Leib legt, darin befinden sich ein paar Kostbarkeiten, alte Goldmünzen und so. Eines Tages zeigt er mir alles, doch ich will es euch nicht verraten.

Und er hält seine Strümpfe mit einem Band an diesen Leib-Gurt, seine dicken, schwarzen Wollstrümpfe, die das ganze Bein bedecken und die Beine — besonders die Knie — vor der Kälte der tibetischen Hochebenen und Berge beschützen. Diese Strümpfe haben oben eine lange Verlängerung, die als Strumpfhalter-Band dient, und am Knie sind sie dicker gestrickt, „besonders meine Knie brauchen den Kälteschutz.“ Doch wenn Tsering barfuß gehen will, zieht er die Strümpfe aus, oder er hat dann Strümpfe ohne Füßlinge. Er geht viel mit nackten Füßen, selten aber wenn wir über Eis gehen. Seine Füße sind stark und zerfurcht, doch Wunden habe ich nie an ihnen gesehen. — Über den Leib zieht er einige warme, meist knie-lange Hemden in bunten Farben oder grau, das innerste Hemd hat er mit einem Bild des Buddha bestickt, und er wendet das Bild seinem Körper zu, nach innen sozusagen, „so ist der Buddha mir am nächsten!“ kichert er. Auf den Bildern seht ihr, welche Mengen an Hemden er trägt.

Was zieht ihr denn den kleinen Kindern an? Doch nicht diesen Leib-Gurt? „Ihre Hemdchen haben seitwärts Schlaufen, an die wir die Strümpfe binden. Das mache ich manchmal auch, doch den Leib-Gurt brauche ich ja sowieso.“

Über die Hemden kommt das schon genannte Gho, dieses knielange Wickel-Kleid, das alle Nomaden und viele andere in den Himalaya-Gegenden tragen. Wie ein sehr weiter Mantel ist es geschnitten, die Arme schlüpfen in Ärmel, und vorne legen sie die beiden Mantelseiten übereinander, die Jungen und Männer mit dem äußeren Teil um die rechte Körperseite, wo das Ende unter den äußeren Gürtel gehalten wird, die Mädchen und Frauen nach links.

Auch sind die Ghos bei diesen etwas länger, heißen dann Kia, doch so genau nehmen die Leute das nicht, mal länger, mal kürzer, egal ob Junge oder Mädchen, mal rechts, mal links gewunden, nach Laune, scheint mir. Doch Tsering belehrt mich: „eigentlich geht das danach, wie ich mich gerade fühle, manchmal fühle ich mich eher weiblich, dann links herum, oder eher männlich, denn rechts herum. Das hat nichts mit den anderen zu tun, nur meine eigenen Gefühle — und ich zeige sie mir selbst ... damit ich erkenne, mich selbst erkenne. Doch meistens fühle ich mich als Tsering, egal ob Junge oder Mädchen.“ In der heutigen tibetischen Sprache machen sie auch fast keinen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Wörtern, sie haben das vergessen im Laufe der Jahrhunderte, denke ich. Wurde unwichtig.

Außen um das Gho bindet Tsering nochmal einen Gürtel, so daß sich oberhalb dieses Gürtels eine Art Beutel vor der Brust bildet — Mawah genannt —, in den er ein paar Dinge steckt, die er immer mal braucht, oder auch die Hände. Auch immer eine kleine Bronzefigur des Buddha, eingewickelt in ein blaues Seidentuch. „Weißt du, warum blau? Das ist die Farbe der Klarheit, der reinen Bewußtheit.“ Und bei unseren täglichen Zeiten der Stille legt er das blaue Tuch auf den Boden und stellt die Figur darauf, die er, wenn er es findet, mit einem Blümchen oder bunten Stein verziert, wir verbeugen uns und singen das Zufluchtsliedchen "Buddham Sharanam Gachchami ...". Wenn Tsering das in seiner hohen Stimme singt, bin ich so warm berührt, manchmal kommen mir Tränen — ist da die gute Erinnerung an meine eigene Zeit, lange zurück, als ich noch meine frühe, helle Stimme hatte?

Und eine Teetasse ist im Mawah, aus Holz gedrechselt und mit einem Deckel aus getriebenem Silber, und mit einer hölzernen Untertasse. Diese ist hochbordig, und wenn der Tee zu heiß ist, gießt Tsering etwas in diese Untertasse und schlürft ihn daraus — eine allgemeine Sitte. Eigenartig, doch diese Völker hier im Osten haben viele Sitten, die wir nicht kennen.

Und zu äußerst wickelt er sich noch ein großes helles Tuch um den Bauch, mit dem er sich bei plötzlichen Hagel- oder Schneefällen umwickelt, es ist aus feiner Wolle, fettig noch vom Schaf, wasserdicht.

Dann schließlich ist da das Schafsfell auf dem Rücken, bunte Tücher wickelt er um den Hals und zieht die orange gefärbte Fellmütze auf den Kopf. Schuhe? Schwere Filzschuhe mit deftigen Ledersohlen — Filzschuhe sind wärmer als Lederschuhe —, manchmal noch mit dicken Wollsocken. Die Socken und die Schuhe lassen seine schmalen Knabenbeine noch schmaler erscheinen, er steht mit festen, klobigen Füßen auf dem Boden. Er liebt es, unten so klobig auszusehen und stampft oft umher, ist wie ein Tanz. Doch, wie ich schon sagte, er trägt sie nicht immer, dafür muß seine Dri sie auf dem Rücken tragen.

Nachts zieht Tsering sich aus bis auf ein oder zwei Hemden, oder ganz nackt, und er legt sich zwischen zwei oder drei dicke Felle, die Haarseite nach innen. So machen´s sie alle hier. Wenn es naß ist, wickelt er das Ausgezogene mit in das helle Tuch. Und wenn es stark regnet oder schneit, spannt er uns ein Zelt auf. Ein paar Zeltstangen und alles trägt die Dri — zur Erinnerung: Dri nennen sie eine Yak-Kuh. Weil das alles der Brauch des Landes hier ist und gewiß gut in dieser Natur, übernehme ich alle Gebräuche. Fast nur an meinem langen und dicken Bart kann man mich noch vom Tibeter unterscheiden.

„Schöner wäre es, wenn meine Strümpfe bunt und geringelt wären,“ sagt Tsering lachend bei seiner Vorführung, „doch das haben nur reiche Leute,“ (obwohl ich glaube, daß er nicht gerade arm ist). Wie er sich anzieht, dreht er sich umher und führt jedes einzelne Stück vor, es macht ihm Spaß, sich vorzuführen, ein Spiel. Und wie er hinterher auf einem Stein sitzt, zieht er das Gho ein wenig höher und die Falten der weißen und bunten Hemden darunter sehen heraus, eine ziemlich viel-fältige Angelegenheit, finde ich, ihr seht es auf dem Bild 19.

Wie alle tibetischen Hirten hat Tsering sein Gesicht mit Ruß bemalt — richtiger gesagt: beschmiert. Das ist in diesen sehr sonnebestrahlten Gegenden ein guter Schutz gegen Sonnenbrand, „haben wir Männer von den Frauen übernommen,“ sagt er, „eigentlich haben die das nur wegen der Schönheit gemacht, aber wir haben gemerkt ...“. In Wirklichkeit ist die Haut der meisten Tibeter hell, zwar nicht so hell wie meine ursprünglich. Meine Haut würde von den Lichtstrahlen der Sonne und wenn sie vom Schnee zurückgeworfen werden, schon an einem Tag verbrennen. Ich habe mir diese Sitte schon auf den Pässen des Himalaya angewöhnt, die Gesichtshaut mit Ruß zu beschmieren, oder mit feineren Cremes, die viele Frauen sich selbst herstellen und auch verkaufen. Es gibt da verschiedene Farbtöne, braun-rötliche Farben sind derzeit in Mode.

Ich finde diese Kleidungsart so brauchbar und angenehm, daß ich sie schon übernehme lange bevor wir zum Kailash kommen. Ein Mann im Städtchen Darchen (das liegt zu Füßen des Kailash) schneidert mir ein neues Gho aus rot-weiß gestreiftem und dicken, gewebten Wollstoff, auch ein orange-rotes Kia wegen der Winterkälte, die bald kommen wird. Gho und Kia sind leichter zu tragen als eine lange Kutte — und sie sind auf der Wanderschaft praktischer als lange Hosen, die wir ja in Europa tragen. Gho und Kia sind besonders leicht an- und auszuziehen, wie ein weiter Mantel, und das ist gut, wenn die Finger vor Kälte ungeschickt sind. Und die passenden Strümpfe — im Winter habe ich Strümpfe aus gefilzter Wolle, ganz lang und dick und warm, schwarz wie alle, manchmal zwei Paare übereinander — hat eine Familie in Darchen auf Vorrat gemacht und verkauft sie an Pilger, ich nehme drei Paare. Und hier bekomme ich auch solche Schuhe wie Tsering, meine alten aus Bengalen sind nun abgelaufen.

Was geben wir für diese Dinge? Ich gebe dafür Arbeit, in Darchen mache ich Gartenarbeit, und Tsering hütet Tiere. Doch was heißt Tiere hüten? Nicht nur aufpassen, daß sie keine falschen Wege gehen oder weggehen. Sondern er zeigt ihnen das richtige Futter, führt sie zum Wasser, schlichtet mal einen Streit, streicht liebevoll über ihr Fell, reinigt es auch mal an Stellen, die sie nicht selbst erreichen . . . eben ein fürsorglicher Hirte. Und nie reitet er auf einem Tier — „die haben selbst genug zu tun, sich und unser Gepäck zu schleppen ... und lustig umherzurennen,“ und er zeigt auf ein paar Yaks, die sich jagen und dabei mit den Hinterfüßen ausschlagen, wir lachen laut, und Tsering beginnt auch umherzurennen und sie nachzumachen, und seine langen Haare und sein Gho fliegen wie die Schwänze der Yak-Bullen.

Ja, und er trägt ungeflochtene Zöpfe wie fast alle hier [zwei Ponyschwänze würden wir Übersetzer sagen]. „Wo sollen wir sonst hin mit den Haaren, ich muß sie zusammenbinden, ich kann sie doch nicht einfach abschneiden! Das wäre ja Selbstverstümmelung!“ [ein Wort, das wir Übersetzer erst nach langen Überlegungen benutzt haben − in Ermangelung einer direkten Übersetzung, die wir nicht finden] Oft sind sie auch geflochten, aber erst ab etwa vierzehn Jahren, und sie binden und flechten allerlei bunte Bänder hinein, und an diese Bänder bunte Perlen.

Schon in Sukhavati hatte ich mir diese Kleidung auch angewöhnt, denn sie ist angenehm und praktisch auf den Wanderungen — und sie sieht schön aus. Mein erstes Gho hatte ich schon in Sukhavati, es war auch rot-weiß gestreift. Und die Leute hier lieben es, schön auszusehen, sich zu schmücken.

Ihre Kleidung machen sie meistens aus Wolle, gestrickt, gefilzt oder seltener gewebt. Es ist ja oft sehr kalt, dann wickeln sie sich fest ein in viele Kleidungsstücke und Tücher. Wer lange Haare hat — und das haben fast alle hier —, wickelt sie sich bei Kälte um den Kopf, meistens die Bewohner der Landgebiete.

An warmen Tagen sind die Beine nackt, und viele gehen barfuß, oder es werden lange Woll-Stulpen über die Beine gezogen, besonders die Knie. Die meisten Menschen ziehen gerne Gho oder Röcke oder lange Roben an, doch im Winter helfen einigen Leuten lange dicke Hosen aus Yakwolle und Stiefel aus kräftigen Filzstoffen oder auch Leder die Kälte abzuhalten — besonders wenn sie in große Berges-Höhen aufsteigen. Sie werden unter die Röcke gezogen, dann sehen die Leute sehr dick aus. Da sie Tiere nicht töten wollen, ist Leder in den Städten seltener, es wird fast nur von Tieren genommen, die von sich aus gestorben sind, oder Leder und Pelze, die sie von den Nomaden der weiten Ebenen im Norden erhandelt haben — dann brauchen sie nicht selbst zu töten. Die Nomaden töten auch nicht gerne, aber es gehört zu ihrer Lebensart, Tiere zu halten, die schließlich geschlachtet werden müssen. Es gehört zu ihrer eigenen Kultur, ist ererbt.

Auf meinen Wanderungen über die Himalayas hatte ich ja eine dickwandige Kutte an, und so machen es einige Leute auf Reisen. Die Kutten sind so weit, daß sich immer Teile ausbauschen und als Taschen benutzt werden — wie das Mawah beim Gho.

Was ich eben beschrieb, gilt am ehesten für das südliche Tibet, wo die meisten Menschen leben und die meisten Städte sind. In anderen Gebieten kleiden sie sich etwas anders, doch Kia und Gho sind überall das wichtigste. Auch wird nicht nur bei den Nomaden sondern auch im Westen mehr Leder und Pelz benutzt. Als Äußerstes ziehen diese sich ein Gho ganz aus Schafsfell an, die Haare nach innen. Und außen hängen sie allerlei Buntes dran: Perlen, Steine, Stoffmuster. Und Säuglinge werden dick in ein Schafspelz eingehüllt auf dem Rücken der Mutter getragen. Wer reist, schläft nachts meistens auf der Erde, doch in viel Pelze eingewickelt — und die Nomaden sowieso, sie sind ja ständig auf der Reise.

Wenn es sehr kalt ist, ziehen auch die Männer ein Kia an, . . . und Tsering auch, schützt die Beine besser.

Seine Dri führt der Junge an einem Seil, das anfangs an einen Nasenring geknotet ist. Wir mögen diese Art aber nicht, uns ist das zu schmerzhafter Zwang für das Tier, was nicht nötig ist, denn die Dri ist sehr mit uns befreundet. Bald nehmen wir den Ring raus und legen einen Strick um ihren Hals, an dem das Führungsseil ist.


Kapitel Sieben — Der Kailash oder Kang Rinpochee
Wir erreichen die Quellsümpfe des Yarlung und dann den See Manasarova. Hier wird das Wetter klar, und von hier sehen wir den Berg Kailash das erste Mal, er ragt eigenartig selbstbewußt aus den anderen Bergen hervor. Nicht spitz wie auch heute noch viele Berge in den Himalayas — eben: „jenseits der Himalayas“. Sondern er steht fest und selbstbewußt {Bild 14}. Und kommen schließlich in seine Nähe, viele empfinden ihn als heilig, Tsering auch — doch was ist schon heilig. Vielleicht gehört das Heilige auch zu den „Denkbildern“ die der Geshe (tibetischer Wissenschaftler der spirituellen Historie, im 1. Bericht) meint, und für wache Menschen ist das ein großes Spiel, mehr nicht. Aber schön: denn durch solche Spiele bekommt das Leben Würze.
 
 Bild 17: der Kailash-Berg 
von der Gompa Chiu aus gesehen, er erscheint riesengroß

Der Berg sieht aus, als ob er schon immer hier unverändert steht — anders als die südlichen Berge in Eis und Schnee, die ein wenig hektisch und zerbrechlich wirken, sie zerbrechen ja auch, wie ich schon sagte. Aber dieser hier? Nie! Eindrucksvoll finde ich den Berg, sehr eindrucksvoll, so daß ich erstmal ein paar Tage am gegenüberliegenden Ufer des Manasarova Tso (= See) bleibe und ihn immer wieder ansehe. Tsering wandert indessen mit seinem Yak einmal um den See und erscheint nach vier Tagen wieder. Ich sitze auf einer der Mauern um das Kloster und sehe ihn von weitem kommen mit seinem Yak, er winkt und seine helle Stimme ruft herüber, „da bin ich wieder“, und sein langes Haar weht im Wind lang aus, noch ungeflochten.

Ich bleibe an seinen Wandertagen im Kloster Chiu, das bewohnt ist von Nonnen und Mönchen aus Indien, dunkelbraune Leute aus dem tiefen Süden, aus Tamilien, dicht eingekleidet wegen der Kälte — na ja, sie kommen aus tropischer Hitze, wenn auch manche lange Jahre nicht mehr dort waren. — Und hier lebt ein chinesisches Mädchen, in das Tsering sich bald verliebt — sie ist auch so schön und eindrucksvoll in ihrer Klugheit. Li tägt immer eine lange, dunkelrote Robe und hat zwei schwarze Zöpfe. Ihre Mutter will hier als Nonne bleiben, aber Li zieht es weiter. Die beiden sind schon von weit her gekommen, und Li findet es hier langweilig, sie ist in Tsering´s Alter, denke ich. Sie sehnt sich nach Wandern, weiterwandern.

Im Kloster ist eine große Tempelhalle mit vielen steinernen Säulen, geweiht dem Götterpaar Shakti und Shiva — für die Hindus noch immer der Inbegriff der Schöpfung alles Lebens. Meist haben sie das ja vergessen und lassen sich — wie in alten Zeiten schon einmal — auf den Buddha ein ... Doch diese hier sind noch von einer sehr alten Art: sie sagen, der Sitz von Shakti und Shiva ist der Kailash — ein Gemälde von Shiva über dem Kailash ist an die Wand eines Andachtsraumes gemalt, wie Gott Shiva über dem Kailash in machtvoller Stille sitzt — ich habe es hier abskizziert {folgendes Bild} —, und so ist er ein Bild ihrer Anbetung oder wenigstens Hinwendung. Brauchbar bei Nacht oder bei Nebel, der häufig ist.

Bild 18: Shiva auf dem Kailash, Skizze nach einem Gemälde im Chiu Gompa

Am liebsten würden sie den Berg mit duftendem Räucherwerk umgeben, aus lauter Verehrung, mit tropischem Räucherwerk, ein wenig zu süß für meine Nase, aber so wie sie es zuhause fertigen, im südlichen Indien. Der Berg ist ihnen der größte Tempel, den es gibt, der größte Altar ..., und so singen sie Tag und Nacht ihre anbetenden Lieder, „Om, Shanti, Shanti, Shanti“, Heiliger Friede, Friede, Friede. Das ist ihr Weg, in die eigene innere Ruhe zu finden, im Frieden. „Om namo Shivaja“, „Om Shakti, om Shakti, om Shakti, om“. Und oft singen wir mit, die beiden fast erwachsenen Kinder in ihren hohen, klaren Stimmen, und ich eher krächzend und brummig, wie ein Bär sagen die beiden.

Die Leute hier nennen den Kailash auch mit einem südindischen Wort `Arunaatschala´, nach einem Berg in ihren Landen. Oder die Tibeter sagen auch verehrensvoll `Kang Rinpotschee´. Er sieht aus wie ein riesiger weiß-strahlender Kristall mit ein paar dunklen Streifen. Sieht aus, als ob er mit Macht nach oben aufsteigt, strahlend, mächtig. Doch er steht still und in sich gekehrt, bewegt sich seit Urzeiten nicht mehr.

Diese südindischen, tamilischen Shivaiten (Shiva-Anbeter) erkennen in den Streifen am Berg ein Symbol für den Shiva-Lingam und die Shakti-Yoni — und so haben sie es gemalt: senkrecht der Lingam, waagerecht die Yoni. Die Unregelmäßigkeiten in den Markierungen erklären sie mit natürlichen Unregelmäßigkeiten im Leben — selbst im göttlichen Leben. Shiva als Erschaffer der Natur hat auch dieses Unregelmäßige mit erschaffen. So sagt mir ein Mönch namens Shaktiprasad.

Genauer besehen ist der Lingam-Streifen ein Spalt, der Yoni-Spalt aber eine Art Balkon, und wir sehen eher die unbeschneite Unterseite dieses Balkons. Hieran heften sich allerlei spirituelle Spekulationen der südindischen Brahmanen im Kloster — wie sie so sind. Ich kann dem aber nicht folgen — ist mir zu wenig eigenes Erfahren sondern mehr Arbeit ihres Verstandes, was nicht Religion ist — nach meiner Meinung.

Die Nordseite des Berges interessiert die Tamilen nicht, er hat nicht diese Zeichen, sie verstehen die Nordseite als seine Rückseite.

Bild 19: Tsering und seine Dri vor der Nordwand des Kailash – das Gho und die gefilzten Strümpfe

In diesen Tagen sieht der Kailash fast ganz weiß aus, es hat dort geschneit. Im Sommer soll er aber rötlich oder orange aussehen — je nachdem wie die Sonne ihn beleuchtet.

Die Kundigen in Tibet sagen, der Kailash ist viel älter als die Himalayas, und deswegen bewegt er sich nicht, ruht fest in sich, ist mit dem Mittelpunkt der Erde durch einen breiten, tiefen Fels-Fuß verbunden — wie ein Mensch in ganz tiefer Meditation, oder eher umgekehrt: er ist ein Beispiel für diese Ruhe, die jeder Mensch in sich selbst finden kann, ... könnte, denn in diesem Land ist auch viel Lebendigkeit, Unruhe, so viel, daß die Behörden allerlei Vorrichtungen haben erstellen müssen, die dazu dienen, den Menschen ihre natürliche Ruhe zu bewahren. Die gelassene Ruhe der Menschen ist aber ein Lebensziel, ein Wahrzeichen dieses Landes. Und sie tun vieles, um sie zu erreichen, ein Beamter sagte mir, „das ist unser höchstes Ziel“.

Viele Plätze der Stille haben die Behörden erbaut, große Plätze, in denen selbst ich viel Heiligkeit empfinde — und Tsering noch mehr. Er kann sich an Heiligkeit begeistern, wird still und ernst und lacht gleich wieder ein Lachen, das ich als ein heiliges Lachen empfinde: wie Kinder manchmal lachen können, nur um des Lachens willen.

Auch hier am Kailash haben die Behörden sich bemüht. Rund um den Kailash sind ja tiefe Täler, mächtige Täler, kahl und hart-felsig, rot und dunkel-grau gefärbt, im Winter oft weiß von Schnee und Eis, ja von Nebel eingehüllt. Tiefe zerrissene Täler mit Felsnadeln und krassen Schluchten {folgendes Bild, die Schlucht links: das westliche Seitental}. Die Flüsse führen weißes oder manchmal auch rotes Wasser. Und in all diesem Fels-Gewirr steht der Kailash: mächtig, klar, einsam — solche Wörter fallen mir dazu ein.

Bild 20: Kailash und links das westliche, zerrissene Tal, 
von Südwesten gesehen

An den Hängen gegenüber dem Kailash, rundherum, haben sie Höhlen gebaut, in denen wir uns hinsetzen können und den Kailash betrachten — einfach um die Ruhe in uns zu finden, dieser ruhevolle Kailash! Es sind Plätze der spirituellen Erholung, und aus ganz Asien werden Menschen hierher geschickt. Tief haben sie die Höhlen in den Fels getrieben, der Aushub aber wurde fortgeschafft, in das Tal um den Tso Manasarova und den Tso Rakshas — diese beiden Seen —, der Manasarova wird verehrt, der Rakshas ist etwas verrufen, die Gegenseite des Manasarova, beide zusammen sind Symbol des einerseits/andererseits.

Tsering fragt mich immer wieder, „darf ich dir dienen?“ Ja, sage ich, doch eigentlich dienst du dem Göttlichen in uns beiden, dein Dienen ist etwas Göttliches, und mein Empfangen auch. Li schließt sich ihm an, denn sie ist mitgekommen, und sie sagt, sie möchte lange bei uns bleiben, „ . . . wie weit ihr auch immer ziehen möchtet, aber auf eure Art muß ich mich erst einstellen, auch auf die Kälte hier“.

In diesen Höhlen leben die Menschen einige Tage oder Wochen. Ja manche leben hier für lange Jahre, und diese bedienen die anderen, holen für sie Brennholz und Nahrung heran. Dieser Dienst ist etwas sehr Wichtiges in ihrem Leben. Tsering in seiner jungendlichen Lebendigkeit und Kraft schlägt sich sofort auf die Seite der Brennholzbeschaffer, als Hirte weiß er schnell, wo es was gibt ohne die Büsche oder Wäldchen auszubeuten. Nicht wie die mächtigen Fremden in alten Zeiten, meist Chinesen, die alles abholzten, so daß es später den Tibetern viel Mühen kostete, die Wälder wieder anzupflanzen — nicht in dieser Gegend aber weiter im Osten.

Ich bespreche mich mal mit einer der Frauen in den roten Kutten, und sie sagt, „Buddha hat als Fernziel den `Neuen Menschen´“, sie erwähnt, er wünschte sich, daß schließlich nur noch reine und klare Menschen auf der Erde leben; daß sich die Menschheit dahin `entwickelt´— wie andere Leute in den Jahren nach ihm sagten. Sie nannten das eine `sich ent-wickelnde Erleuchtung´.

„Damit meinten sie vielleicht, daß der Erleuchtete, der erleuchtete Mensch das Ziel der Natur ist, der ganzen Existenz. Das ist die natürliche Entwicklung, auf die das ganze Leben hinzielt, die ganze Natur — Buddha hat das formuliert für uns. Ja, die natürliche Entwicklung, auf die das ganze Leben hinzielt.“

„Die Naturkundler bei euch in den westlichen Ländern haben das in den alten Zeiten ähnlich gesagt: sie erkannten, daß das Leben immer vollkommener wird, doch erst der Mensch — kein Tier — kann sich auch im Geist vervollkommnen, und da ist ja noch immer nicht das Ende der Entwicklung erreicht — werden wir je an ein Ende ankommen? Was heißt das überhaupt: `vollkommen´, oder `ankommen´?“

.  . .  Rückblick auf die Zeiten nachdem Buddha lehrte, und ich frage weiter: ist es denn nun so gekommen wie Buddha sich das wünschte, sind wir jetzt alle so hell, daß man `erleuchtet´ sagen könnte? Sie lacht, „na, sieh dir mal an, was in all den langen Zeiten geschehen ist, ich denke, wir sind schon sehr weit gekommen . . . vielleicht sogar die perfekte göttliche Erleuchtung?“ doch nun lacht sie schallend bei diesen Worten. Mir fallen die alten Geschichten ein, von denen ein Geshe spricht, all das Zerstören in früheren Jahtausenden, alle diese Kriege . . . das gibt es ja nur noch selten. (im Anhang 3)

Meine Gedanken gehen nun wieder zum Kailash-Berg und die von den Menschen hergestellten Plätze dort. Was finde ich am Kailash? Wichtig sind diese Einrichtungen der Höhlen am Kailash für Menschen, die in die große Unruhe gefallen sind, besonders die Menschen in verantwortlichen, hohen Staats-Posten. Doch es gibt hier am Kailash auch Höhlen, die wie Klöster eingerichtet sind, in denen die Leute lange, über Jahre in sich gekehrt leben. Und diese Menschen — Nonnen und Mönche — helfen den anderen. Sie bereiten das Essen, halten die Räume in schönem und klaren und sauberen Zustand, pflegen die Plätze der Meditation und erläutern den Besuchern alles, sind auch Lehrer, ja spirituelle Meister, will ich sie mal nennen.

„Das hört sich aber so an, als ob die Stille und Ruhe, die Meditation und all das einen gesund machen sollen, eine Art Medizin sind. Ein Mittel zur Staatskultur, zur Staatsverwaltung. Ich sehe das anders“ — sagt eine Nonne, die eine dicke, verschlissen-blaß-rote Kutte mit einer dicken Kapuze trägt und ein rot gefärbtes Schafsfell umgehängt hat —, „unser Ziel ist, in der geistigen Stille — Meditation — den Geist zu entwirren, die Strukturen aufzulösen, einfach zu werden.“

Was meinst du mit Strukturen? „Ich fange mal mit der Geburt eines Menschen an: um diese Welt, in die wir nun ohne Ziele — wie es uns erscheinen muß — hineingeworfen wurden  . . . , um sie zu erkennen, alles einzuordnen, damit umgehen zu lernen, diese vordergründige Welt  . . . dazu brauchen wir im Kopf erstmal ein System, eine Ordnung, eben eine Struktur. Kinder werden ja ganz leer und ohne diese Ordnung geboren, und sie müssen sie sich zum Anfang herrichten. Das ist ihre Arbeit — wenn ich mal so sagen darf —, ihre Haupt-Arbeit in den ersten Lebensjahren.“

„Später bedeutet dann Meditation, daß wir diese Ordnung, diese Struktur wieder auflösen, oder besser: zu lernen, sie als ein Werkzeug zu benutzen, ganz bewußt, aber nur dann, wenn es nötig ist, mehr nicht, nicht als Lebensinhalt.“ Und was ist statt dessen? Sind wir dann nicht dumm, unwissend, unkönnend, unfähig? „Ja, zu Zeiten sind wir das. Aber wir sind dann nicht un-bewußt, die Bewußtheit bleibt! DAS ist es. — Die Wirklichkeit kommt ohne diese Strukturen, ohne diese Ordnung aus. Um die Wirklichkeit zu erkennen, müssen wir diese hemmenden, uns einengenden Strukturen durchleuchten und — wenigstens zeitweise — zur Seite legen. Die Ordnung im Kopf benutzen wir als Werkzeug, damit wir manche Aspekte der Wirklichkeit — aber nur manche — bewältigen können. Zum Beispiel Schafe hüten und züchten. Aber sonst . . . “

Ich sehe mir die Hirten an. Wenn sie tätig sind, ist ihr Geist beschäftigt und unruhig. Doch wenn es zwischendurch nichts zu tun gibt, ist er still — und aufmerksam. Wie eine Einsiedlerin.

Im späten Herbst sind wir angekommen. Von Darchen aus ziehen wir los. Tsering und Li möchten im Ungestüm gleich hinter dem Ort in die schroffe Schlucht rennen, die Schlucht des Silung Tschu (Tschu = Fluß), ein Pfad führt seitlich entlang dieser Schlucht direkt zum Berg, sagen die Leute, doch das ist nicht die `Kora´, der Pilgerpfad.

Wie es üblich ist, gehen wir zur Kora links um den Berg, also in das linke, weite Tal hinein. Rot und grau streckt sich der Berg rechts in die Höhe, stark, und niemand denkt daran, ihn zu erklimmen — wie früher manche Ausländer wohl taten, heißt es. Immer wieder strecken sich seitlich Felsenvorsprünge hoch, zu kleinen Spitzen und Kämmen ausgefranst, rot und manchmal grau {Bild 17}. Oben eine Schneekappe, früher hatten auch die Tibeter die Idee, daß da oben der große Gott Shiva wohnt.

Es wird gesagt, daß einmal eine Gruppe vor sehr langer Zeit versucht hat, den Kailash zu besteigen, „bezwingen“ wie sie es nannten, aber er hat sie — wie es einem vorkommt — abgeschüttelt, es war zu glatt und gleichzeitig zu stürmisch da oben  . . . niemandem ist es gelungen. Sie wurden als hochmütig empfunden und ausgelacht.

Und danach versuchten sie es mit fliegenden Maschinen, doch ein Sturm hat das Gerät mit allen Insassen einfach in ein Tal geschleudert. Danach gaben sie es auf, es waren keine Tibeter sondern Fremde. Mir werden die Kratzspuren dieses Absturzes an einer Felswand gezeigt — gewaltig, aber nichts im Vergleich mit dem Berg. „Siehst du, das sind die Symbole der Veränderungen: von solchen Momenten an sind die Menschen neue Wege gegangen — hatten sie es verstanden? Von solchen Momenten an fing Tibet langsam wieder an zu blühen, das war einer der neuen Anfänge, das waren die Zeichen, die auch wir Chinesen verstanden, voller Ehrfurcht,“ sagt mir sehr eindringlich eine kleine Frau aus Tsingtau in China, wie wir auf ihrem geduldigen Weg rund um den Berg ins Gespräch kommen, sie spricht auch Tibetisch. Die ganze Zeit ihrer Pilgerschaft murmelt sie ihr „Om Mani Padme Hung“, das wichtigste tibetische Mantra seit Urzeiten. Und sie wandert sehr langsam, friert in den Nächten und schwitzt am Tage und erlebt ihren Körper auf diese Weise, nimmt ihn mit allen Sinnen wahr — wie sie auch den Kailash und seine Landschaft, seine Geräusche und die Geister mit großer Aufmerksamkeit wahrnimmt.

Auch wir umwandern den Kailash bevor wir zur Höhle gehen. Werfen uns viele Male auf den Boden wie andere Pilger auch, das `Sonnengebet´, `Surya Namaskara´ wie es die alten Inder nannten. Bin verwundert, denn so nahe komme ich der Erde, es kommt mir vor, als ob ich für die menschliche Gesellschaft verloren bin, nur in diese Nähe zur Erde, hingegeben, mit ihr verwachsen, langsam. Bei jedem Niederwerfen dringt mein Körper in die Erde ein — obwohl alles felsig und voller Schotter ist. Tsering hat sein Schafsfell auf den Bauch gebunden, und Li und ich beschaffen uns auch rechtzeitig eins zum Schutz gegen die Erdkälte hier, mussten dafür drei Tage in einem Kloster Holz hacken. Unsere Tiere sehen gleichmütig zu und fressen etwas Gras und Kräuter. Vielleicht haben sie´s schon, wonach wir streben?

Li ist von zarter Natur, ganz anders als Tsering. Wir beiden Männer haben das Bedürfnis, auf sie aufzupassen, damit ihr nichts passiert, und ihre eine gute Ausrüstung zu beschaffen, denn sie hat nicht viel, also Felle und warme Strümpfe und Schuhe, alles für die Wärme. Auch eine große Kapuze, aus der ihr Gesicht kaum raussieht. Die Ausrüstung nimmt sie dankbar an, aber das mit der Zartheit lässt sie nicht zu, „ich bin dieses Land doch gewohnt, laufe hier schon ein Jahr rum  . . . “ Wir lieben sie schon für solche Sätze.

Daß Li bei uns ist, macht mich froh und zufriedener, eine tägliche, klar weibliche Aussage, die mir in dieser Feinheit bisher fehlte auf meinen Wanderungen.

Um den Berg herum gehen viele Pfade, miteinander verschlungen, auf denen die Pilger die ihnen zugewiesene Höhle suchen oder einfach die Kora gehen, die hingegebene Umwandlung des Kailash — oder nach der Höhlenzeit weiter in dieser rechten Umkreisung, wieder fortgehend, wenn ihre Zeit vorüber ist, zurück ins Tal der großen Flüsse und Seen gehen, zurück in ihre Plätze im Land, nach Sukhavati, und in andere Länder auf der Erde, vielleicht nach Himachal, wo wir noch hinwollen.

Ziemlich am Ende des Westlichen Tales, nahe der Passhöhe Dölma La, ist die Höhle für uns, hier leben manchmal mehr als zehn Leute, diesen Winter sind nur sieben anwesend, wir sieben wollen über den Winter bleiben oder länger: eine tibetische und eine südindische Nonne, zwei Laien-Männer — Brüder aus Kirgisien — und Tsering und Li, und ich aus Europa — eine vielfältige Gruppe! Nahrung und Brennholz haben wir herangeholt, fast jeden dritten Tag gehen zwei oder drei los, Tsering´s Dri ist eine große Hilfe. Es geht solange das Wetter offen ist, solange die Wege nicht völlig zugeschneit sind, und wir erwerben alles gegen Arbeit im Tal in den Klöstern. Sie haben es vom Staat — will ich mal sagen — bekommen mit der Pflicht zur Weitergabe.

Auch Tsering hat nun ein langes Kia an, ein langes Wickelkleid aus dicker Wolle, und wickelt sich seine Beine in wollene Tücher ein und seinen Hals auch. Er bleibt fröhlich wie Kinder sind und hilft mit allem, was er besser weiß als ich, schließlich ist das hier seine Heimat, ist nichts Besonderes. Manchmal ist es ihm zu warm in der Höhle und er schläft draußen im Schnee, in einer Schneehöhle wie ein Hund, und lässt sich einschneien. Das kann Li so wenig wie ich. Doch manchmal kommt Tsering zu mir in meine Felle, und wir beiden liegen zusammen und streichen einander über die nackten Körper und genießen diese Berührungen. Es gibt auch Zeiten, wenn wir uns eng umschlingen, wenn ich seinen Pulsschlag erlebe, und wenn das Vibrieren seines Körpers in einer leichten erotischen Erschütterung meinen Körper mitreißt. Das gehört zum Schönsten in unseren Wochen und Monaten. Li hält sich etwas zurück und liegt allein in ihren Fellen, sie hat aber auch das Sehnen und sagt uns mal schluchzend, daß es ihr einsam ist. Dann legt Tsering sich zu ihr, und es wird besser, und so bleibt es.

Es gibt viele Bäche und Quellen, und ihr Wasser haben die Leute in Hangkanälen am Rande der Hänge entlang geleitet, und die Höhlen können daraus ihr Wasser ableiten oder schöpfen. Es gibt auch ein paar warme Quellen, die besonders gehegt werden. Die Abwässer aber leiten sie nach außen, und im Sommer verrotten die Reste der Exkremente einfach, oder die Wölfe holen sich einen Teil.

Im Tal hatten früher mal fremde Leute versucht, eine breite Straße zu bauen, doch die einheimischen Pilger haben sie immer wieder zerstört, vielleicht auch irgendwelche Berggeister, obwohl ich das unglaubbar finde. Na, und die Rauhheit der Natur hat den Straßenbau behindert!

Diese Höhle hat viele Räume, einige haben rundliche Fensterlöcher nach draußen, Glasfenster schützen vor der Kälte, dicke Filzvorhänge schützen noch zusätzlich, doch innen haben wir große oder kleine Öfen angeheizt. Ein großer Raum-der-stillen-Einkehr hat auf der Außenseite, dem Kailash zugekehrt, große Fenster, doch innen, gegenüber ist ein riesiges Gemälde an der Wand: der Buddha der Zukunft, Dschampa [Jampa] oder Maitreya.

Hier ist der Felsen außen ganz dunkel, und so kann er viel Wärme von der Sonne aufnehmen, und zusammen mit der Heizung friert es drinnen nie. Ich glaube, es ist eine dicke Flechten-Schicht, die den Fels fast schwarz macht. Meistens schlafen Li und ich in der Nähe eines Ofens, diese tibetische Hochland-Kälte sind wir nicht richtig gewohnt.

Ein langer Gang führt von der Höhle tief in den Berg hinein, wir gehen ihn oft mit Fackeln in den Händen. Jetzt im Winter wohnen hier viele Fledermäuse, die an Sommertagen in kleineren Höhlen im ganzen Land schlafen. Wie schwarze Lappen flattern sie um uns. „Die sind mir aber unheimlich . . . “ ruft Li, und Tsering zittert auch, doch er will sie beschützen und wedelt mit den Armen, um die umherflatternden Tiere zu verscheuchen.

Dieser Gang ist nicht von den Menschen geschlagen sondern war schon immer (oder sehr lange) hier. Immer müssen die Kothäufchen der Tiere wieder entfernt werden, damit wir gehen können, doch wir bringen den Kot als Kompost für ein paar kleine Gärten ins Tal, in denen sie im Sommer etwas Gemüse und Gewürze ziehen. Die Fledermäuse fliegen ein und aus durch ein Loch, das viel tiefer liegt — und so kann die warme Luft nicht verloren gehen.

Das Wunderliche an diesem Gang ist aber: am Ende nach einem langen, geraden Weg führt er in eine sehr große Höhle, eine riesige Halle, und wie die Fackeln hier und dahin gehalten werden, erkennen wir eine glitzernde Vielfalt von Kristallen, meistens in Rot, Rosa oder Orange. Die runde Decke und die Wände bestehen aus Kristallen. Man könnte meinen, daß die Menschen sie abschlagen und zum Schmuck benutzen würden — die Tibeter schmücken sich gerne mit Halsbändern, in die Kristalle eingenäht sind, die Bänder sind aus schwarzen Yak-Haaren gewebt. Diese Kristalle hier aber werden gelassen, denn sonst würde der Glanz der Höhle ja bald verschwinden. Es gibt ein paar Stellen, da haben Räuber etwas ausgebrochen, es soll zur Chinesen-Zeit gewesen sein, da war alles so verworren. Doch diese Räuber sollen später Gewissensbisse bekommen und versucht haben, sich bei den Berggeistern reinzuwaschen, zu ent-schuldigen — ob ihnen das gelungen ist, weiß niemand, ist ja auch eine sehr persönliche Sache.

Es ist mir etwas sehr Heiliges — wenn ich mal meine Gefühle so benennen darf —, in dieser Höhle zu sitzen und still die Ausstrahlungen der Kristalle auf mich zu spüren, von fast allen Seiten von unseren Lichtern beschienen. Lange und oft sitze ich hier — fast so oft wie gegenüber dem Kailash, den ich durch eines der großen Fenster in der vorderen Halle betrachte. Wenn es draußen warm ist — warm heißt, es ist zwar Frost, doch die Sonne strahlt mittags fast direkt in unsere Fenster hinein —, dann schieben wir ein Fenster zur Seite und sehen diesen großen Berg ganz klar vor uns. Ja, nun sehen wir ihn von der Nordseite, man könnte sagen, von der Hinterseite. Doch für mich sieht er von Norden nicht so aufwendig aus wie von Süden gesehen, er ist einfacher, ruht mehr in sich, er sieht symmetrisch aus, diesen Blick mag ich mehr als den von Süden, wie er bekannter ist, und wie ihn die Tamilen vom Kloster Chiu lieben. Hier ist auch ein Bild von dieser Seite {Bild 16} — im Vordergrund seht ihr, wie Tsering gerade seinen Strumpf wieder festknotet  . . . — das Bild zeichne ich im Sommer, also etwas später — jetzt aber ist die Luft schneeig und kalt, wenn das Fenster offen ist  . . .  unter uns im Tal ist alles voller Schnee, und die Bäche sind zugefroren. Es ist still wie selten, kein Wind, kein Vogelschrei, kein Pfeifen von Murmeltieren — alle sind weggezogen oder ruhen in ihren Höhlen bis zum Frühjahr. Nur ein paar Geier sehe ich sehr hoch kreisen — ob sie was finden oder ob ihr Mühen umsonst ist in diesem tiefen Winter? Ich denke, sie sollten in den Süden ziehen wie jeder anständige Vogel.

Oft sitze ich still, und die Kinder haben sich vor mich gelegt und die Köpfe in meinen Schoß. Das ist ein so warmes Sein, wie ich es aus meinem Land nicht kenne — diese Nähe! Wenn Tsering mich dann still ansieht, mit den schwarzen Augen, dann versenkt sich meine Seele in seine, und ich bin in seinem Körper — das geschieht nicht täglich, nur bei großer Stille. Unsere Seelen verschmelzen für eine Weile ineinander, er spricht später in gleicher Weise davon, so weiß ich  . . . — Li aber hat die Augen geschlossen.

Das sind die Erfahrungen mit der spirituellen Seite in dieser Gegend. Und die meisten Menschen erfahren das. Was der Geshe über die Natürlichkeit der tibetischen Menschen gesagt hat, trifft auf die ganze Bevölkerung zu, finde ich, gemindert durch die Zeit und Kraft für die tägliche Arbeit. Doch Künstliche habe ich hier nicht getroffen, ich habe auch nicht besonders danach gesucht. Natürlich sind alle Leute hier — und sie verwenden lange Stunden des Tages für das Leben in Stille, in den Meditationshallen oder einfach im Haus oder Zelt vor einem Bild von Buddha oder in der Natur beim Anblick der Berge oder Flüsse. Und dann wieder sind wir fröhlich und tanzen im Schnee und wälzen uns da.

. . . Bild von Buddha? Viele haben Figuren, so große wie eine Hand oder noch größer, viele sind aus Metall gemacht, in schönen, warmen Farben, alt und mit warmer Patina. Die Anwesenheit eines solchen Bildes, wie Buddha meditiert, regt zur Stille an. Man könnte es eine geistige Technik nennen, aber es ist eher eine geistige Stimmung, in der ich lebe. Obwohl wir in Europa davon wissen, ist diese Stimmung erst während der Wanderung nach Asien in mir erschienen — und geblieben.

. . . Meditieren: das ist fast ein Nichts, in ganzer Wachheit nichts in uns geschehen lassen, kein Schlaf oder Dösen sondern ganz wach. Keine Gedanken, nicht einmal Bilder oder Genüsse. Selbst wenn wir uns zur Einstimmung ein Lichtlein oder einen schönen Stein ansehen — bald sind diese Eindrücke vorüber, und ein helles, klares Nichts bleibt im Geist. Reine Bewußtheit will ich es mal ausdrücken.

Seit die Monsunregen und die warmen Winde des Südens diese Gegend erreichen, kann — entlang der großen Flüsse — einiger Pflanzenanbau betrieben werden, und so haben die kleinen Höfe, Klöster und Herbergen im weiten Tal um Darchen und um die beiden Seen eine Lebensgrundlage. Außerdem haben sich wohl durch die Bewegungen der Himalayas an ihren Nordhängen neue heiße Quellen ergeben, also nur südlich der großen Talebene der Seen und Flüsse  . . .  von uns aus in Sichtnähe {Bild 18}, wenn du auf einen Berg steigst und seitwärts am Kailash vorbeisehen kannst. Hier aber, nördlich des weiten Tales, wachsen manche Pflanzen nicht, die es in der Nähe der warmen Quellen gibt. Hier ist es zu kalt.

Bild 21: Blick nach Süden von den Kailash-Hügeln
 über die Ebene des noch jungen Langtsch-hen 
Kambhab zum Gurlu Mandata-Berg

Nahe den Nordhängen der Himalayas jedoch wird mehr Landwirtschaft betrieben als anderswo in dieser Gegend, Gerste und Aprikosen an erster Stelle, und Milch-Dris (die Yak-Kühe) mit hohen Leistungen. So daß die Leute Milch, Butter und Käse an die Reisenden abgeben können. Wie ich höre, war das vor langen Jahrhunderten nicht so — zu kalt und zu trocken.

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